Michel Foucault – Les aveux de la chair

Michel Foucault – Les aveux de la chair

Organisatoren
Groupe Suisse d´Etudes Patristiques; Karin Schlapbach, Universität Fribourg
Ort
Fribourg
Land
Switzerland
Vom - Bis
21.09.2021 - 21.09.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Barbara Müller, Fachbereich Evangelische Theologie, Universität Hamburg; Karin Schlapbach, Institut für Antike und Byzanz, Universität Fribourg

Den Anlass zur Tagung bot ein Großereignis, nämlich die posthume Publikation von Michel Foucaults viertem und letztem Band seiner „Histoire de la sexualité“, der im französischen Original 20181, in der deutschen Übersetzung unter dem Titel „Die Geständnisse des Fleisches“ 20192 erschien. Da Foucault seine Thesen in diesem Band anhand von ausführlichen Lektüren von Quellenmaterial aus der Geschichte des frühen Christentums präsentiert, wollte sich im Frühjahr 2020 eine interdisziplinäre Gruppe von Spezialist:innen der Alten Geschichte, der Geschichte des antiken Christentums sowie der Philosophie – Foucaults im speziellen – mit diesem Band beschäftigen. Pandemiebedingt musste die Tagung auf den Herbst 2021 verschoben werden.

Im deutschen Sprachraum ist Foucaults Band von den Fachwissenschaften, die sich mit Foucaults frühchristlichem Lesematerial beschäftigen, bislang nicht vertieft rezipiert worden; eine vergleichbare Veranstaltung von Foucaultspezialist:innen und Fachwissenschaftler:innen mit Fokus auf „Les aveux de la chair“ fand bisher lediglich in Paris statt (2018), ein zugehöriger Tagungsband erschien vor kurzem.3 In ihrer Begrüßung wies KARIN SCHLAPBACH (Fribourg) darauf hin, dass Foucault aus aktuellem Anlass der Pandemie COVID-19 und der staatlich verordneten Maßnahmen dagegen vermehrt ins Blickfeld gerückt ist, dass sich aber gerade darum auch die Frage erneut stelle, wie sich in seinem Werk eigentlich historische Perspektiven und politische und philosophische Analysen zueinander verhielten. Veranstaltet wurde die Fribourger Tagung im Rahmen des „Groupe Suisse d´Etudes patristiques“; entsprechend lag ein Hauptfokus der Konferenz auf der Frage, in welcher Weise Foucault frühchristliche Quellen liest. Und dann natürlich: Was er mit gerade diesen Quellen, also christlichen Autoren des 2. bis 6. Jahrhunderts, die mit Ausnahme Augustins von Hippo nicht zum gängigen Bildungskanon gehören, eigentlich illustrieren will.

Hier fällt auf, dass sich Foucault vornehmlich auf Quellen und Autoren abstützt, die der Zeit einer sich institutionell festigenden Kirche zuzuordnen sind. JOHANNES ZACHHUBER (Oxford) zeigte auf, dass bei Foucault das frühe Christentum im 2. Jahrhundert beginnt und somit unter Ausklammerung seines biblischen und jüdischen Fundaments beschrieben wird. ROBERTO NIGRO (Lüneburg) wiederum konnte dieses spezifisch institutionelle Interesse Foucaults am frühen Christentum in Beziehung setzen zu den von Foucault zeitgleich mit der Arbeit an „Les aveux de la chair“ betriebenen Studien zur Biopolitik: Die Perspektiven auf Vergangenheit und Gegenwart, auf den Umgang mit sich selbst und auf die Formen und Instrumente der politischen Macht verschränken sich somit. Die Texte zu Foucaults viertem Band seiner „Histoire de la sexualité“ (dt. „Sexualität und Wahrheit“) entstanden nachweislich nach Band 1 („La volonté de savoir“, 1976 / „Der Wille zum Wissen“), jedoch vor Band 2 („L´usage des plaisirs“, 1984 / „Der Gebrauch der Lüste“) und Band 3 („Le souci de soi“, 1984 / „Die Sorge um sich“). THOMAS SPÄTH (Bern) führte gekonnt in die komplexe Entstehungsgeschichte des vierten Bandes ein, den er überzeugend als „unfertiges Buch“ bezeichnete; denn tatsächlich war es der Akt des modernen Editors, Haupttext und Anhänge zu gruppieren und zu strukturieren. Es fehlt dem Band auch an der sonst für Foucault typischen Stringenz und Leser:innenführung, ebenso an ausgearbeiteten Fußnoten etc. Doch vermochte THOMAS SPÄTH zu zeigen, dass sich gerade im Unfertigen Foucaults Arbeitsweise genau beobachten lässt.

Ein inhaltliches Hauptthema des Bandes stellt der christliche Umgang mit dem sexuellen Begehren dar. GREGOR EMMENEGGER (Fribourg) spann Foucaults Faden weiter und präsentierte in dessen Perspektive der Macht und des Blickes auf Sexualität und Begehren die Canones der spanischen Synode von Elvira (um 300), in denen keinerlei dogmatische Fragen behandelt, jedoch unterschiedlichste Konstellationen von Ehebruch geregelt werden. Neben Texten von Kirchenvätern wie z.B. Gregor von Nyssa, Augustin und Gregor dem Großen bietet Foucault in seinem Buch auch umfangreiche Lesefrüchte aus dem frühen christlichen Mönchtum; dabei konzentriert er sich, wie BARBARA MÜLLER (Hamburg) darstellte, vor allem auf den gallischen Mönchstheologen Johannes Cassian, aus dessen recht ausschweifenden Büchern er konstruierte, wie sich im frühen Christentum „wahr sprechen“ (dire-vrai) realisierte. Mit Bezug auf das Begehren schätzte Foucault die Lehre Augustins von der Erbsünde als einen Wendepunkt ein, nach der der Mensch das Begehren, und namentlich das falsche Begehren, qua Mensch in sich trägt und weitergibt. ROBERTO NIGRO verortete das Interesse an Augustins einflussreichem Theologoumenon, das Foucault mit großem Anlauf entwickelt, im Kontext der Debatten der 1970er-Jahre über die Sexualität, die seinerzeit als natürliches Faktum behandelt wurde. Foucault seinerseits setzte dem mit seinen Darstellungen der heute durchaus auch befremdlichen Ansichten frühchristlicher Autoren eine Position entgegen, die auf den immer schon gesellschaftlich und historisch geformten Blick auf vermeintlich neutrale Themen hinweist.

Die Lektüre von Foucaults viertem Band von „Sexualität und Wahrheit“ ist nicht nur wegen des fragmentarischen Charakters des Buchs keine einfache. Es ist davon auszugehen, dass die dort versammelten Texte gleichsam als Nachhall und Kontrapunkt zu damals aktuellen philosophischen, politischen und religiösen Debatten im Frankreich der 1970er-Jahre zu verstehen sind. Offensichtlich wollte Foucault seine Bände von „Sexualität und Wahrheit“ im christlichen Milieu ausklingen lassen, das die westlichen Institutionen und damit die Instanzen, die ein Monopol über die Wahrheit hatten, über Jahrhunderte hinweg geprägt hat. Wie er dabei argumentiert und wie er dies auch umfangreich mit historischen Quellen belegt, ist auf dieser Tagung im allgemeinen sowie in Tiefenbohrungen präsentiert worden; weiteres wird noch zutage zu fördern sein. Dies ist umso nötiger, zumal Foucault eine stupende Belesenheit und ein eindrückliches Sensorium für die spätantiken Autoren und Themen aufweist, aber natürlich keine ausgewogene Darstellung der frühen Kirche anstrebte. Gerade diese Unausgewogenheit macht indessen die Lektüre spannend und herausfordernd – und die weitere Erforschung umso nötiger. Foucaults selektiver Gebrauch der Vergangenheit, in dem sich genaue Lektüre und idiosynkratisches Erkenntnisinteresse miteinander verbinden, könnte durchaus als eine Art Vereinnahmung beschrieben werden, doch erweist diese sich in „Les aveux de la chair“ nicht nur inhaltlich, sondern auch methodisch als ungemein anregend.

Der Ertrag der Konferenz bestand in vielen spannenden einzelnen Erkenntnissen zu einem Werk, dessen Erforschung gerade erst angelaufen ist. Vor allem aber ermöglichte die interdisziplinäre Zusammensetzung des Teilnehmer:innenkreises, die Foucault programmatisch wichtige Textoberfläche sowohl aus historischer als auch aus philosophischer Perspektive genauer auszuleuchten und unterschiedliche Disziplinen miteinander ins Gespräch zu bringen, die sich vielleicht bisweilen auf gleiche Theorien und Fragen beziehen, aber ansonsten den unmittelbaren Dialog nicht unbedingt pflegen. Die Beiträge der Konferenz werden nun für die Publikation vorbereitet; wenn sie zu einer breiteren Rezeption des vierten Bandes von „Sexualität und Wahrheit“ im deutschen Sprachraum beitragen könnten, wäre dies sicher positiv.

Konferenzübersicht:

Gregor Emmenegger (Fribourg) und Karin Schlapbach (Fribourg): Begrüßung / Einleitung

Moderation: Karin Schlapbach (Fribourg)

Barbara Müller (Hamburg): Michel Foucaults Aufnahme christlich-monastischer Literatur in „Sexualität und Wahrheit“, Band 4

Gregor Emmenegger (Fribourg): Mit Foucault am Konzil von Elvira. Möglichkeiten und Grenzen der Foucaultschen Begriffe zur Analyse von Machtstrukturen am Beispiel der sogenannten Canones des illiberitanischen Konzils

Thomas Späth (Bern): Lesendes Schreiben und schreibendes Denken: Foucaults „Aveux de la chair“ als Arbeitsprozess

Moderation: Gregor Emmenegger (Fribourg)

Roberto Nigro (Lüneburg): Der Platz der „Aveux de la chair“ zwischen Genealogie des Begehrenssubjekts und Geschichte der Gouvernementalität

Johannes Zachhuber (Oxford): Sexualität und Subjektivität. Michel Foucaults Sicht auf die Kirchenväter

Schlussdiskussion

Anmerkungen :
1 Michel Foucault, Les aveux de la chair, hrsg. von Frédéric Gros, Paris 2018.
2 Michel Foucault, Die Geständnisse des Fleisches, Sexualität und Wahrheit 4, hrsg. von Frédéric Gros, übersetzt von Andrea Hemminger, Berlin 2019. Cf. Michel Foucault, Confessions of the Flesh, New York 2021.
3 Philippe Büttgen u.a. (Hrsg.), Foucault, les pères, le sexe. Autour des Aveux de la chair, Paris 2021; siehe auch: https://michel-foucault.com/2021/06/17/foucault-les-peres-le-sexe-autour-des-aveux-de-la-chair-edited-by-philippe-buttgen-philippe-chevallier-agustin-colombo-arianna-sforzini-2021/. Die von Foucault benutzten antiken Texte sind mit französischer Übersetzung und Kommentar hrsg. von Stéphane Ratti, Les aveux de la chair sans masque, Dijon 2018. Der von J.-M. Narbonne u.a. hrsg. Tagungsband Foucault: Repenser les rapports entre les Grecs et les Modernes, Quebec / Paris 2020, berührt Les aveux de la chair nur am Rande.


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